Der abstrakte Heckenschnitt

„Du, ich bin gerade im Kaufhaus K. Und werde verfolgt“, stammelte die Frau des stattschreibers am Telefon. Der stattschreiber wankte auf seiner Leiter. Er schnitt gerade die Hecke mit seiner neuer Akkuheckenschere.

„Von wem denn?“, fragte der stattschreiber.

„Ein vollbärtiger Typ.“

„Und wo bist du gerade?“

„Bei den Handytaschen. – Ich geh jetzt mal in eine andere Abteilung. Mal sehen, ob er mir nachschleicht. Bis später.“

Leicht beunruhigt versuchte der stattschreiber die Buchenhecke weiterzuschneiden. Er hatte keinen waagrechten Faden gespannt und orientierte sich an der oberen Schnittkante des Nachbarn. Doch die Gefahr, in der seine Frau zu schweben schien, machte ihn nervös. Er schnitt krumm. Er schnitt schief. Er schnitt abstrakt.

Warum rief sie denn nicht an? Hatte sie nicht gesagt, sie würde sich melden? Da, endlich vibrierte das Handy in der Brusttasche seiner dunkelblauen Latzhose.

„Hast du ihn abgeschüttelt?“

„Nein, ich bin jetzt in der Spielwarenabteilung. Aber er ist immer noch da?!“

Vor Schreck entglitt dem stattschreiber die Heckenschere. Fallend fräste sie sich einen Weg durch die Hecke.

„F***!“ fluchte der stattschreiber.

„Was?“ wunderte sich seine Frau. Der automatische Ausschalter klemmte. Die Schere hüpfte wie ein Derwisch in der Hecke herum und häckelste kurz und klein, was ihr zwischen die Schneidezähne kam.

„Schatz, ich muss Schluss machen. Ruf doch die Polizei. Ich melde mich gleich wieder!“

Wie sollte der stattschreiber die Heckenschere stoppen? Da half nur noch brutale Gewalt. Er packte die Leiter und warf sie auf die zuckende Heckenschere. Metall traf auf Metall! Funken stoben. Knirsch! Knarz! Stille! Der stattschreiber hatte die Heckenschere erlegt. Erleichtert wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Der erste Bösewicht war erlegt. Nun galt es Nummer Zwei zu eliminieren.

„Schatz, ich bin´s. Soll ich dich retten?“ fragte er seine Angetraute durch das Telefon.

„Er ist immer noch da“, antwortete die Frau des stattschreibers.

„Ich komme, und gebe ihm eins auf Maul“, posaunte der stattschreiber, angestachelt durch den Triumph über seine Heckenschere.

„Warte mal. Vielleicht ist es ja der Detektiv?!“ mutmaßte da die Frau des stattschreibers. Seine Frau als Diebin verdächtigt? Der stattschreiber wollte schon empört den Geschäftsführer sprechen, als ein Gedanke sein Hirn durchzuckte: Und wenn etwas Wahres daran war? Wenn seine Frau das Leben in der kleinen Stadt nicht verkraftete und eine Diebin geworden war? Wenn der Verfolger im Recht war?

„Hmm, Schatz, ist dir vielleicht aus Versehen etwas in die Einkaufstasche gerutscht? Etwas, das den möglichen Verdacht des möglichen Kaufhausdetektivs zu einer nicht zu leugnenden Tatsache werden lässt?“, dachte der stattschreiber und sagte es besser nicht.

„Ich melde mich, wenn ich genaueres weiß“, flüsterte seine Frau und legte auf.

Inzwischen war der Nachbar aus seinem Haus gekommen und betrachtete die Schnittkunst des stattschreibers. Er wiegte den Kopf, kratzte sich am Kinn und sagte: „Abstrakte Kunst.“

Da meldete sich wieder die Frau des stattschreibers.

„Schatz, ich bin in Sicherheit. Der kleine Türke aus der Schreibwarenabteilung hat mir geholfen. Ich habe zu ihm gesagt, dass ich verfolgt werde. Und er ist gleich mit mir mit und hat sich kaputt gelacht, als er meinen Verfolger erkannte. Es war der Detektiv!“, kicherte die Frau des stattschreibers.

„Okay. Super. – Du, ich habe auch eine Überraschung für Dich, wenn Du nach Hause kommst“, erklärte der stattschreiber, betrachtete nachdenklich die zertrümmerte Heckenschere, die Buchenhecke und sann über den Kunstbegriff seiner Frau nach.

4 Kommentare zu „Der abstrakte Heckenschnitt

  1. ein hallo dem stattschreiber,

    der kunstbegriff, erwähnt in der letzten zeile, würde mich nun brennend interessieren!

    viele grüsse von einem ort ohne buchenhecke, aber dafür mit einem erhöhten sonnenbrillenaufkommen.

    cordula

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