Bekanntlich suchen Spinnen aller Art im späten Herbst eine kuschlig-warme Bleibe, um zu überwintern. Im Domizil des metropolenschreibers zeigte sich dieses Phänomen anhand zweier Achtbeiner, die verzweifelt die Glasscheibe zur Waschküche im Keller überwinden wollten.
Seit Oktober hingen sie zwischen äußerem Lochblech und innerer Scheibe fest und so konnte der metropolenschreiber sie beim Aufhängen der Wäsche tagtäglich beobachten. Aus sicherer Distanz. Denn die Scheibe schien ein unüberwindliches Hindernis. Doch: War und ist sie das wirklich? Oder waren und sind die beiden Spinnenkollegen vor dem Waschküchenfenster nur ein Ablenkungsmanöver der Spinnenart als solcher?
Ein durchaus plausibler Verdacht, denn neulich ereignete sich Folgendes:
Es war ein stiller Abend in der kleinen Stadt. Das Rauschen der nahen A3 beruhigte die Gemüter und nach getanem Tagewerk ging man müde und zufrieden ins Bett. So auch im Hause metropolenschreiber.
Man griff sich ein Stück Literatur, zwischen E und U angesiedelt, platzierte das Weinglas auf dem Nachttisch, sank zufrieden in die weichen Gänsedaunen, als ganz trippeltrappelplötzlich da diese Bewegung war! Im Augenwinkel. Am Rande des Wahrnehmungsfelds. Kaum auf dem Schirm nur mit hochsensiblen Hörorganen wahrnehmbar! Dieses Klackklackklack und Huschhusch über die Dielen.
Durch den Schlitz zwischen Schlafzimmertür und Bodenschwelle hatte sich die GROßE SPINNE geschoben, um hart an der Scheuerleiste auf das Bett des metropolenschreibers zuzumarschieren.
„Oh, Gott. Eine Spinne.“
„Wo? Wo? Iiiih! Mach doch was!“ rief die Frau des metropolenschreibers.
„Ja! Ja! Was? Was?“
Oh, wie stellten sich die Nackenhaare auf. Diese Kreatur war zu gigantisch, zu flink, zu schwarzbehaart!
Schon bog das Untier unter den Kleiderschrank ab. Wo bist du?
Hart ging der metropolenschreiber auf die Knie und leuchtete mit der Smartphonelampe unter den Schrank. Staub, Münzen und da: Geschmeidig halb unter der Scheuerleiste verborgen: das Viech!
„Was soll ich tun?“ dachte der metropolenschreiber: „Hier unsere Urangst, dass sie uns im Schlaf in den Mund krabbelt, dort das allgemeine Insektensterben mit dem Rückgang der Populationen um 75 Prozent, wie es in Funk und Fernsehen beklagt wird.“
Sollte er sie mit dem Besenstiel zerdeppern? An das übliche Einsammeln mit Glas und Postkarte war ja nicht zu denken. Zu geschickt hatte sie sich unter dem Schrank verkeilt. Welche Waffen gab das Arsenal neben dem Besenstiel noch her. Rasch scannte der metropolenschreiber den Raum. Handtuch? Bügeleisen? Digitalwaage? Elektrische Zahnbürste? Endlich fiel sein Blick auf den Staubsauger, der aus unerfindlichen Gründen den Weg ins Schlafzimmer gefunden hatte. Noch nie war ein Sauggerät so schnell eingesteckt, angeschaltet, das Rohr vom Bürstenkopf befreit unter den Schrank geschoben und losgesaugt. Scharf pfiff die Luft, kratzte das Metallrohr an der Holzleiste, polterte es dumpf von unten gegen den Schrank. Sound der Apokalypse!
„S-C-H-E-R-E-N-K-R-Ä-F-T-E!“ donnerte die Stimme des metropolenschreibers. „S-C-H-E-R-E-N-K-R-Ä-F-T-E!“
Flupp, war das Böse weggesaugt, verschwunden in den Abgründen des Staubsaugerbeutels. Zitternd trat der metropolenschreiber auf den Ausschaltknopf und da kam sie schon, die große Scham, die große Reue! Was hatte er nur getan?!
„Was sind Scherenkräfte?“
„Das hat uns doch mal der Dem-Ingenieur-Ist-Nichts-Zu-Schwör-Helmut erklärt. Das ist irgendetwas Physikalisches. Er macht das immer so. Gegen diese Scherenkräfte hätten die Spinnen mit ihren langen Beinen keine Chance.“
„Wie grausam. – Sie lebt also nicht im Beutel weiter?“
„Hmm. Hat Helmut zumindest behauptet.“
„Ich weiß nicht. Wenn sie nachher wieder rausgekrabbelt kommt …“
„Okay. Ich stelle den Staubsauger lieber über Nacht auf den Balkon.“
„Sicher ist sicher.“
Tja, und das hätte es gewesen sein können. Okay, der metropolenschreiber verkündete noch in der Familien-WhatsApp-Gruppe: „Achtung: Spinnenalarm! Bitte Fenster und Türen rasch schließen und nur Stoßlüften!“
Aber damit war das Thema eigentlich durch und der metropolenschreiber konnte darangehen, seine Schuld am Insektensterben zu verdrängen. Doch wie wir alle wissen, drängt und dräut Unter-den-Teppich-Gekehrtes und -Weggesaugtes immer und ewig und extrem nervtötend an die Oberfläche. Denn eigentlich war der metropolenschreiber so gut davor. Die Episode war dem Kurzzeitgedächtnis bereits entfleucht, war schon auf dem besten Wege sich als schuldbefreites Histörchen in den In-Fröhlicher-Runde-Ausgegrabenen-Anekdoten-Speicher zu verabschieden, als massiv die Gewissenskeule zuschlug.
Ort des Dramas war an einem der folgenden Abende der Rock ‘n-Roll-Yoga-Kurs der örtlichen Volkshochschule, zu dessen Teilnehmern. der metropolenschreiber zählt. Während dort zu Beginn Matten ausgerollt und Sportfunktionskleidung angelegt wird, pflegt man den lustigen Smalltalk. Harmlos und keck. Nur was ritt den metropolenschreiber diesmal? Übermut? Geltungsbedürfnis? Eitelkeit? Nein, das Gewissen regierte – mächtig, allmächtig, hinterrücks!
„Und, seid ihr auch schon am Heizen?“ wandte sich also der metropolenschreiber an Mitgymnast Oskar.
„Ja. Ja,“ erwiderte dieser lustlos. Irgendwie wollte er nicht in das Thema einsteigen.
„Ach, die läuft bei uns immer. Wir haben Fußbodenheizung. Die startet automatisch,“ warf jetzt seine Frau ein.
„Dann passt aber mal auf: Jetzt kommen nämlich die Spinnen. Die suchen ein Winterquartier. Gestern war eine bei uns im Schlafzimmer!“
„Und: Hast du sie getötet?“ wurde Oskar jetzt munterer.
„Nicht direkt. Nur aufgesaugt.“
„Ah, die musst du fangen. Mit einem Becher und Postkarte.“
„Ja, so mache ich das ja sonst auch immer. Aber sie saß so unter dem Schrank. Ich kam nicht dran.“
„Also, du gehörst auch zu unserer Generation. Wir machen so „Patsch!“ und tot. Die jungen Leute heute, die sammeln ein. Für die habe ich eine Maschine erfunden, um Insekten lebend zu fangen.“
„Wirklich?“
„Ja. Du nimmst eine Mon Cherie-Schachtel. Da musst du sie reinlocken. Dann hast du einen Schieber. Sie müssen nur über die kleine Schwelle und schon hast du sie eingesammelt.“
Der metropolenschreiber versuchte sich an die Form von Mon Cherie-Schachteln zu erinnern, verstand aber nur Bahnhof.
Trotzdem erwiderte er: „Wow. Das klingt gut.“
„Dann musst du sie aber auch 80 Meter vom Haus entfernt aussetzen“, mischte sich jetzt der Trainer ein und ergänzte:
„Sonst kommt sie immer wieder zurück. Die merkt sich das!“
„80 Meter? Ich werfe die immer nur in die Hecke zum Nachbarn,“ sagte der metropolenschreiber.
Und Oskar verkündete: „80 Meter? Das kann ich mir nicht vorstellen. Soviel Kondition haben die nicht. Ich habe mal eine Spinne jagen müssen. Als ich sie dann endlich hatte und aussetzte, saß die wie platt da. Völlig erledigt. Die hat richtig gepumpt.“
Und um seinen Ausführungen mehr Gewicht zu verleihen, schnaufte Oskar wie eine atemlose Hausspinne und schlenkerte dazu mit den Armen.
„Achtzig Meter? Niemals.“
„So, los geht´s“, beendete der Trainer die Diskussion und startete die Chartbreaker-CD mit den ABBA-Songs, zu denen sich der metropolenschreiber und seine Mitturner reckten und streckten. Und dann als der metropolenschreiber zu Dancing Queen die Position des Kosmischen Krieger ausführte, kam ihm endlich die Erleuchtung.
Plötzlich wusste er, wozu die Spinnen-Episode sein Leben bereichert hatte: „Endlich gehöre auch ich einer Generation an! Ich bin weder Alt-68´er noch Generation X, Y oder Z. Ich bin Generation Patsch!“